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AVIVA-BERLIN.de im Mai 2024 - Beitrag vom 07.10.2018


Viel in Bewegung - Bibliotheken in Zeiten technologischen, gesellschaftlichen und politischen Wandels
Bärbel Gerdes

Bibliotheken waren und sind immer Spiegel ihrer Zeit und der gesellschaftlichen Prozesse gewesen. Das zeigt sich auch an den Themen, mit denen sich BibliothekarInnen in den letzten Jahren befassen. Digitalisierung, der offene Zugang zu wissenschaftlicher Literatur, Fake News und der politische Backlash in der Gesellschaft sorgen für rasante Veränderungen.




Laut des Public Library Manifestos der IFLA, der Internationalen Vereinigung bibliothekarischer Verbände und Einrichtungen, von 1994 gehören zu den Grundaufgaben Öffentlicher Bibliotheken die Bildungsfunktion, die kulturelle Funktion, die politische und die soziale Funktion. Bibliotheken sollen Bildung und den möglichst kostengünstigen Zugang zu Medien für alle ermöglichen, und sie sollen zu mehr Informationskompetenz beitragen. Sie dienen der Demokratisierung. Alle BürgerInnen sollen durch Bibliotheken die Möglichkeit haben, sich eine eigene Meinung zu bilden und sich eigenes Wissen anzueignen sowie urteilsfähig zu werden.

Als Treffpunkt für alle haben Bibliotheken eine soziale Funktion. Wohl sämtliche Öffentliche Bibliotheken haben auf die Zunahme geflüchteter Menschen mit entsprechenden Angeboten für diese Gruppe reagiert.

In den vergangenen Jahrzehnten unterlagen die Öffentlichen und die Wissenschaftlichen Bibliotheken, also Hochschul-, Universitäts-, Landes- und Forschungsbibliotheken, durch die zunehmende Technisierung und Digitalisierung einem starken Wandel. Das Informationsmonopol, das lange in den Händen der Bibliotheken lag, wurde durch Google, Wikipedia & Co. aufgeweicht. Neue Medienformate, neue Technologien und damit einhergehende Lizenzbestimmungen verwandeln das Bibliothekswesen grundlegend. Die Arbeit in Bibliotheken ist wesentlich vielschichtiger, rasanter und spannender geworden, da die Veränderungen jahrzehntelange Selbstverständlichkeiten infrage stellen:

Wie soll die Fernleihe – also die Bestellung eines Buches, das nicht am eigenen Ort vorhanden ist – funktionieren, wenn dieses nur als E-Book zur Verfügung steht, die Lizenzbestimmungen der Verlage jedoch so rigide sind, dass sie eine Nutzung durch andere Bibliotheken nicht erlauben?

Open Access, der offene Zugang zu wissenschaftlichen Arbeiten für alle, ist eine große Herausforderung. In Zeiten der Informationsüberflutung bekommt die Beurteilung von Quellen immer mehr Gewicht. Durch "Fake Science" und "Fake News" wird die Identifizierung von Fakten immer schwieriger. Gefakte Zeitschriften machen einen höchst wissenschaftlichen Eindruck und sind von den seriösen kaum zu unterscheiden.

Auch der gesellschaftliche Rechtsruck macht sich teilweise in den Bibliotheken bemerkbar. Auf dem Workshop einer Tagung unter dem Arbeitstitel "Informationskompetenzvermittlung und Rechtsradikalismus – was können wir tun?" setzten sich KollegInnen, die im Schulungsbereich, vor allem für Studierende, tätig sind, damit auseinander, was sie in ihrem Arbeitsumfeld gegen den gesellschaftlichen Rechtsruck und die unkritische Übernahme von Informationen beitragen können. So untersagte in einer Bibliothek in Dresden eine Leiterin ihrem Team, über politische Themen am Arbeitsplatz zu sprechen. Der tiefe Riss, der durch die Gesellschaft geht, macht leider auch vor BibliothekarInnen nicht halt.

An einem 2017 eröffneten Erweiterungsbau für die Teilbibliothek Sprach- und Literaturwissenschaften in Bamberg prangt eine große Tafel. In unterschiedlichen Sprachen und Schriftzeichen ist dort das Wort "Bibliothek" zu lesen – nur nicht auf Arabisch. Es heißt, sei dies eine bewusste Entscheidung gewesen, um eventuellen Protesten aus der Bevölkerung zuvorzukommen. Dabei, so heißt es auf der Website, legt dieser Bamberger Lehrstuhl einen arealen Schwerpunkt auf die Sprachen und Sprachgemeinschaften des islamisch geprägten Nahen und Mittleren Ostens, insbesondere auf die dort vertretenen Minderheitensprachen. Auf meine Nachfrage via Facebook wurde mir als Begründung genannt, es fehlen ja auch zahlreiche andere Sprachen. Aufgrund des begrenzten Platzes musste der Künstler eine Auswahl treffen.

In einer Göttinger Bibliothek steht die Kollegin vor der Herausforderung der Bücher des Antaios Verlages. Der Verlag gehört zur Identitären Bewegung, die dem Rechtsradikalismus zugeordnet wird. NutzerInnen machen Anschaffungsvorschläge und begründen dies mit eigenen Studien. Wo endet das zur Verfügung stellen von Informationen und wo beginnt Zensur?

Ein österreichischer Kollege aus einer Medizinbibliothek berichtet davon, dass auf Anordnung des Präsidiums alle Bücher, die sich mit Alternativen Heilmethoden und mit Homöopathie befassen, aus dem Bestand genommen werden mussten. Die Wirksamkeit dieser Methoden sei nicht nachgewiesen, die Bücher deshalb unnötig für das Studium.

Auch die Genderfrage wird in einigen Bibliotheken (wieder) traditionell bedient. Leseecken, in denen es "Literatur für junge Forscher" gibt und vor denen Schilder darauf hinweisen, diese seien "Nur für Jungs" oder "Für Mädchen verboten", schreiben den Geschlechtern wieder einmal Rollen, Themen und Kompetenzen zu.

Die Frage danach, wie BibliothekarInnen auf diese Tendenzen reagieren können, wurde leidenschaftlich diskutiert. Zum kritischen Bewusstsein anregen, Urteilsvermögen schärfen und sich klar positionieren – gerade auch als Bibliothek – waren die Antworten.

Informationen/Handlungsempfehlungen

Esther Lehnert und Heike Radvan - Rechtsextreme Frauen. Analysen und Handlungsempfehlungen für soziale Arbeit und Pädagogik
Die Autorinnen Lehnert und Radvan, beide tätig in der Fachstelle für Gender und Rechtsextremismus der Amadeu-Antonio-Stiftung, beleuchten ein unterschätztes Phänomen und plädieren für eine genderreflektierte Haltung gegenüber Rechtsextremismus, nicht nur im Bereich der sozialen Arbeit und Pädagogik. (2016)


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Beitrag vom 07.10.2018

Bärbel Gerdes